Toggenburger Zeitung: Der taubstumme Idiot vom Selun

NESSLAU/ALT ST. JOHANN Alleine im Titel dieser Buchbesprechung finden sich zwei Worte, die wir so heute nicht mehr brauchen. «Taub-stumm» wurde zurecht mit «hörbehindert» ersetzt, denn stumm sind diese Menschen ja nicht. Und «Idiot» erklärt sich von alleine: Es käme keinem in den Sinn, einen Menschen mit unterdurchschnittlichem Intelligenzquotienten als Idioten zu bezeichnen. Dieses Wort ist heute ein Schimpfwort.

Ganz anders 1844. Das war das Jahr, als Johannes Seluner aufgefunden wurde. Natürlich hiess er nicht Johannes Seluner – der Name deutet auf den Fundort hin. Auf dem Gemeindegebiet von Alt St. Johann, auf den Alpen unter dem Selun wurde gemäss Polizeibericht ein Junge gefunden. Ausgemergelt und halbnackt habe sich der ungefähr 16-Jährige von der Milch der Kühe ernährt. Sprechen konnte er nicht, ihn einzufangen, schien schwierig gewesen zu sein. Er wurde zuerst ins Armenhaus in Alt St. Johann und dann in jenes in Nesslau, wohin der Findling vom damals jungen Kanton St. Gallen zugeteilt wurde, gebracht. Dort blieb er dann auch, bis er 1898, also gut 70 Jahre alt, starb. 1926 wurden seinen Knochen exhumiert und für Forschungszwecke nach Zürich gebracht. Und weil niemand die Knochen zurückhaben will, liegen sie noch immer dort in einer Schachtel im Anthropologischen Institut der Universität Zürich. Soweit in etwa die Faktenlage.

Mythos «enfant sauvage»

Rea Brändle ist nicht die Erste, die sich Johannes Seluner angenommen hat. Sie ist auch nicht die Erste, die sich dem Thema wissenschaftlich nähert. Ihr Buch, das 2016 im Chronos Verlag erschienen ist, gibt einen strukturierten Überblick über Mythos und Wahrheiten rund um den Mann, der vor 173 Jahren aus dem nichts aufgetaucht ist. Und genau diese strukturierte Aufarbeitung macht das Buch äusserst lesenswert. Es ist Geschichtsunterricht und Unterhaltung in einem. Aus dem «enfant sauvage» wurde nämlich schon bald ein tierartiges Monster, behaart und böse. Seluner eignete sich ideal für die (damaligen) Feindbilder unterschiedlicher Couleur. Ausgesetzt wurde er von Fahrenden, Ausländern oder einer ledigen Mutter. Bald war er einer, der es mit Kühen trieb, Kinder erschreckte und Frauen sowieso.

So war das damals in der Schweiz?

In Tat und Wahrheit war Seluner aber ein armer Schlucker, den man zu den misslichen Bedingungen seiner Zeit ins Armenhaus steckte. Brändle hat Visitationsberichte von damals studiert.

Es sind denn diese historischen Dokumente, die als Zeitzeugen mindestens ebenso interessant sind wie die ganzen Mythen rund um Seluner. Man erfährt, wie viel Geld für die Insassen ausgegeben werden durfte, wie viel mal pro Jahr Fleisch oder Süsses auf den Tisch kam – eine Hand genügt zum Zählen –, wie gewohnt, gelebt und wie bestraft wurde.

Gleichzeitig sind es denn auch diese Schilderungen, die einem beklemmen. War das wirklich die Schweiz vor bloss 120 Jahren? Aus heutiger Sicht fast unvorstellbar.

Michel Bossart

 

http://www.toggenburger-zeitung.ch/eventskultur/detail/article/der-taubstumme-idiot-vom-selun-00104857/#

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Kommentare: 2
  • #1

    Tina (Mittwoch, 08 Februar 2017 16:56)

    Interessant, Danke!

  • #2

    Lesung zum Buch (Mittwoch, 08 Februar 2017 17:58)

    "Johannes Seluner, Findling"
    10. Februar 2017, 20.15 Uhr

    Rea Brändle stellt ihr neues Buch vor!

    Lesung mit Bildern,musikalisch begleitet vom Duo Zööke,

    Stefanie Rutz und Katja Bürgler-Zimmermann.

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